Die Nadel im Heuhaufen

Es war einmal ein großer Haufen unwichtiger Papiere. Der Halter dieses Papierstapels überlegte sich gerade, ob er nicht etwas Ordnung machen sollte und diesen Stapel mit altem Papier zum Altpapier bringen sollte.

Also nahm er den Papierstapel hoch und wollte ihn nach draußen zu seiner Altpapiertonne tragen. Auf einmal hörte er ein kleines, hohes Stimmchen, das aus dem Papierstapel zu kommen schien. Beim ersten Mal dachte er noch, er hätte sich verhört oder es wäre das Rascheln des Papiers gewesen. Beim zweiten Mal war das Stimmchen schon wesentlich lauter und ohne Anstrengung zu verstehen: "Bitte, bitte, wirf mich nicht weg!", flehte das Stimmchen.

Der Mann legte daraufhin den Stapel Papier wieder hin und sich etwas ins Bett, da er vermutete, krank zu sein.

Am nächsten Tag versuchte er erneut, den Stapel wegzuwerfen. Er schaffte es bis hinaus zum Mülleimer, ohne auf die Stimme zu hören. Als er allerdings den Mülleimer bereits aufgeklappt hatte und die Papiere hineinwerfen wollte, schrie die Stimme regelrecht "Neeiiin, laß das!". "Halt die Klappe", sagte der Mann verärgert, womit er einen gerade vorbeikommenden Passanten ziemlich irritierte.

Er rannte, den Papierstoß noch immer unter dem Arm, ins Haus zurück. Die Blätter flatterten mit dem Wind, seine Nerven flatterten ohne.

Wiederum am nächsten Tag hatte er einen Termin bei seinem Psychiater. "Sie müssen sich mehr Ruhe gönnen, Sie setzen sich viel zu großem Streß aus", meinte dieser mit väterlicher Stimme. "Vielleicht haben Sie recht", stöhnte der Streßgeplagte. "Möglicherweise symbolisiert der Papierstapel für Sie die tägliche Arbeit, die Last, die ständig auf Ihnen ruht. Diese Last wehrt sich natürlich dagegen, daß Sie sich einfach so von ihr befreien, aber tun Sie es trotzdem! Wenn Sie es schaffen, die tägliche Arbeit einmal fallenzulassen, dann werden Sie sich befreit fühlen von allen Sorgen des Alltags."

Energiegeladenen Schrittes ging der Mann nun nach Hause. Als er bei seinem Haus ankam, merkte er, daß sein Auto immer noch vor der Praxis des Psychiaters stand. Das war ihm aber in dem Moment egal, er öffnete die Tür, stürmte hinein, riß sich fast den Mantel von seinem Körper, warf ihn schwungvoll in Richtung Kleiderständer, verfehlte ihn, traf eine Vase, die folgerichtig vom Tisch fiel, ignorierte das, stampfte mit ungebrochener Entschlossenheit weiter in Richtung Papierstapel, zog ihn mit einem Ruck in die Höhe und...

...hörte wieder die geheimnisvolle Stimme: "Lies mich ... lies mich ... LIES MICH ENDLICH, DU SCHLAFMÜTZE!" "Wer, wer bist Du?", wollte der völlig Verwirrte wissen. "Ich bin ein kleiner Zettel, ich bin ein kleiner, aber sehr wichtiger Zettel in diesem Papierhaufen", antwortete der Zettel. "Und wo bist Du?" "Keine Ahnung, es ist stockdunkel hier. Such mich!" "Wieso sollte ich? Du bist wahrscheinlich bloß ein alter Einkaufszettel, der sich wichtig machen will." "Ach nee, und wer kauft denn ein?", fragte der Zettel hämisch.

"Na meine F..., oh nein, Du bist der Zettel!" hektisch kramte der Mann nun den Papierstapel durch, bis er seinen Gesprächspartner gefunden hatte. Auf ihm stand, daß er heute um 15 Uhr seine Frau und seine beiden Kinder vom Bahnhof hätte abholen sollen. Leider war es jetzt bereits 17 Uhr und er mußte auch noch ein Taxi rufen, da sein Auto ja beim Psychiater war.

Einige Tage später hängte der Mann den Zettel über der Tür seines Arbeitszimmers auf, um sich immer daran zu erinnern, daß man auf kleine vorlaute Zettel hören sollte. Seine Frau und seine Kinder haben jedoch nie verstanden, was es mit diesem Zettel auf sich hatte...

Und die Moral von der Geschicht': Egal, wie alt ihr Altpapier auch ist, werfen Sie es nie weg, weil Sie es nämlich genau dann wieder brauchen werden.
 



 
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© Michael Butscher, letzte Änderung am 30.04.1998